Fritz Winter. documenta-Künstler der ersten Stunde
Foto: Hessen Kassel Heritage,
Mirja van IJken
© VG Bild-Kunst, Bonn 2023
Verleihung des Fritz-Winter-Preises
Endlich ist es so weit: Fritz Winter, der große Abstrakte, kommt nach Kassel: „Fritz Winter. documenta-Künstler der ersten Stunde“ ist vom 20.10.2023 bis 28.1.2024 in der Neuen Galerie zu sehen. Nachdem die Ausstellung 2020 pandemiebedingt nicht eröffnen konnte, gibt es eine Neuaufführung. Die Präsentation zeigt Winters künstlerischen Weg und seine vielfältigen Verbindungen mit der documenta-Stadt Kassel anhand von rund 90 Kunstwerken aus Malerei, Grafik und Bildwirkerei.
Auf der ersten documenta-Ausstellung 1955 hatte Fritz Winter einen fulminanten Auftritt. Mit seinem sechs Meter breiten Gemälde „Komposition vor Blau und Gelb“ wurde der ehemalige Bauhausschüler als einer der wichtigsten Vertreter der abstrakten Malerei inszeniert. Der 1905 geborene und 1976 verstorbene Künstler hatte das Werk gemeinsam mit dem documenta-Gründer Arnold Bode als zentrale Rauminstallation für den Malereisaal im Museum Fridericianum vorgesehen. Dort hing es gegenüber „Picassos Mädchen vor einem Spiegel“, einer prominenten Leihgabe aus dem MoMA in New York. So wurde, zehn Jahre nach Kriegsende, der Anschluss der westdeutschen Malerei an die internationale Kunstentwicklung geltend gemacht. Heute gilt dieses erste situativ für eine documenta konzipierte Kunstwerk als Ikone. Das Gemälde konnte zwischenzeitlich mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Hessischen Kulturstiftung, der Ernst von Siemens Kunststiftung und des Museumsvereins Kassel e.V. für Hessen Kassel Heritage erworben werden und bildet das Herzstück der Ausstellung in der Neuen Galerie.
Fritz Winter als Galionsfigur der bundesdeutschen Nachkriegskunst
Portrait Fritz Winter, um 1950
Foto: Fritz-Winter-Haus, Ahlen
Am 1. Mai 1955 trat Winter eine Professur an der fortschrittlichen Werkakademie in Kassel an, wo er bis 1970 lehrte. In den folgenden Jahren arbeitete er eng mit Bode zusammen und war zunehmend in die Entscheidungs- und Organisationsstrukturen der Großausstellung eingebunden. Auf den ersten drei documenta-Schauen nahm er mit umfangreichen Werkkomplexen teil, die nun weitgehend rekonstruiert werden. So zog auf der documenta 2 ein monumentaler Wandteppich in der Halbrotunde des Fridericianum die Blicke auf sich. Zudem war neben zahlreichen Gemälden eine Gruppe von Serigrafien aus dem Jahr 1950 zu sehen – mit die ersten in Deutschland entstandenen künstlerischen Siebdrucke. Zur documenta 3 präsentierte der Künstler keine aktuellen Werke, sondern eine Folge großformatiger, dunkelgrundiger Papierarbeiten aus dem Jahr 1933, die er nie zuvor gezeigt hatte. Diese von den Nationalsozialisten als „entartet“ diffamierten Werke hielt er über Jahre in eigens gebauten Verschlägen auf dem Dachboden seines Bauernhauses in Dießen am Ammersee versteckt. Die mächtigen biomorphen Kompositionen basieren auf den Strukturen seiner Zellen- und Sternbilder, in denen der Künstler, interessiert an den bildgebenden Verfahren der Naturwissenschaften wie Mikroskop und Teleskop, den Ursprung des Lebens mit den Weiten des Weltalls zu verbinden suchte.
Vom Bauhaus zur documenta
Fritz Winter, Gelber Klang, 1950
Öl auf Leinwand, 50 x 60 cm
Fritz-Winter-Stiftung, Bayerische
Staatsgemäldesammlungen,
München
Foto: Bayerische Staats-
gemäldesammlungen
© Fritz-Winter-Stiftung
Winters Lebensweg steht exemplarisch für die zweite Generation abstrakter Maler. Geboren in eine westfälische Bergarbeiterfamilie, machte er eine Ausbildung zum Grubenelektriker, bevor er 1927 ans Bauhaus in Dessau ging. Ab 1933 fand er in Deutschland keine Ausstellungsmöglichkeit mehr. Nach dem Krieg gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe der Gegenstandslosen, später ZEN 49, die für eine künstlerische und moralische Erneuerung eintrat. So wurde er zur Mittlerfigur zwischen den Künstler:innen der Vor- und Zwischenkriegsmoderne wie seinen Lehrern Wassily Kandinsky oder Paul Klee und der jüngeren Generation informeller Maler:innen. Mit Fritz Winter gilt es, einen zentralen Protagonisten der frühen documenta-Geschichte wiederzuentdecken – und einen Maler, der die Sprache der gegenstandslosen Kunst in Deutschland seit den 1920er-Jahren maßgeblich erweitert hat.
Hessen Kassel Heritage rekonstruiert in der Neuen Galerie auf Initiative der Fritz-Winter-Stiftung und der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen die zentralen Beiträge des Künstlers zu den ersten drei documenta-Ausstellungen 1955, 1959 und 1964. Die Ausstellung basiert auf den umfangreichen Beständen von Hessen Kassel Heritage und der Fritz-Winter-Stiftung, die seit ihrer Gründung im Jahr 1981 an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen beheimatet ist.
Fritz Winter, Große Komposition
(Wandlung II), 1953
Öl auf Leinwand, 160 x 190 cm
Fritz-Winter-Stiftung, Bayerische
Staatsgemäldesammlungen,
München
Foto: Bayerische
Staatsgemäldesammlungen
© Fritz-Winter-Stiftung
Die Präsentation ist eine Kooperation von Hessen Kassel Heritage, den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und der Fritz-Winter-Stiftung an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Sie wird maßgeblich unterstützt durch das Fritz-Winter-Haus, Ahlen, das bedeutende Leihgaben zur Verfügung stellt, und das documenta archiv, dessen Archivalien eine begleitende Dokumentation ermöglichen. Das Projekt wurde großzügig gefördert von der Hessischen Kulturstiftung und dem Museumsverein Kassel e.V. sowie der Volksbank Kassel Göttingen eG.
Zur Ausstellung erscheint die Publikation „Fritz Winter. documenta-Künstler der ersten Stunde“ mit Beiträgen von Dorothee Gerkens, Wolfgang Glüber, Martin Groh, Henrike Hans, Kai-Uwe Hemken, Birgit Jooss, Oliver Kase, Harald Kimpel, Anna Rühl und Christian Spies (Klinkhardt & Biermann Verlag, 200 Seiten, ca. 150 Abbildungen, gebunden, Verkaufspreis während der Ausstellung 24,90 Euro).
Fritz Winter, Weißer Weg, 1957
Öl auf Leinwand, 97 x 130 cm
Fritz-Winter-Stiftung, Bayerische
Staatsgemäldesammlungen,
München
Foto: Bayerische Staats-
gemäldesammlungen
© Fritz-Winter-Stiftung
Verleihung des Fritz-Winter-Preises an Nora Schattauer und Eva-Maria Schön
Wegen der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie konnte der Fritz-Winter-Preis an die Künstlerinnen Nora Schattauer und Eva-Maria Schön 2020 nur virtuell verliehen werden. Dies wird nun mit einem Festakt am 19. Oktober 2023 nachgeholt, denn mit den Ausstellungen der Fritz-Winter-Stiftung ist auch die Erfüllung des Stiftungsziels verknüpft, das Fritz Winter intendierte und das seine künstlerische Haltung spiegelt. Der Künstler verstand seine Arbeit als Akt der Aneignung und des Verstehens der Welt und sah seine abstrakten Formfindungen in Analogie zu den Naturgesetzen, weshalb er die Förderung von Kunst und Naturwissenschaft zum Stiftungszweck erklärte.
Nora Schattauer und Eva-Maria Schön arbeiten mit großer Intensität an Konzepten, die das Verhältnis von Kunst und Natur berühren. Nora Schattauer entwickelt umfangreiche Versuchsreihen mit Mineralsalzlösungen, die sie mit der Pipette auf spezielle Papiere aufbringt. Es entstehen serielle Reihungen in zarter Farbigkeit, die natürliche Prozesse in abstrakten Bildern spiegeln. Eva-Maria Schön erforscht und fixiert in Werkgruppen wie „Handvokabular“ und „Atemstücke“ Lebensspuren, deren Schönheit sich auch über deren Vergänglichkeit erklärt. Seit vielen Jahren pflegen die Künstlerinnen einen Dialog in Wort und Bild über die Vielfalt der Naturformen. Im Naturkundemuseum im Ottoneum in Kassel bietet eine kleine Präsentation nun Gelegenheit, Auszüge ihrer aktuellen Arbeiten auf Papier zu studieren. Aus Anlass der Preisverleihung erscheint eine zweiteilige Publikation. PM:Hessen Kassel Heritage
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